Wir werden uns in Zukunft damit auseinandersetzen müssen, dass auf Grund der Evidence based medicine (EBM) und der darauf basierenden Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) ein Paradigmenwechsel in der Diagnostik und Therapie von Krankheiten eintreten wird. Unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen sollen somit verhindert werden – natürlich auf dem Boden des kostenbewussten Umgangs mit den begrenzten finanziellen Ressourcen in unserem Gesundheitssystem. Aber auch in Bezug auf die Begrenzung der Invasivität diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, was letztlich dem Patienten zu Gute kommen soll. Von Vielen wird dies als „Kochbuch-Medizin“ betrachtet. In Wahrheit: es stellt natürlich eine Begrenzung der Erfahrungsmedizin, der Therapiefreiheit und der Heuristik dar.
Wenn wir uns über Diagnose und Therapie von Kreuzschmerzen unterhalten wollen, müssen wir natürlich die Anatomie im Auge behalten – und damit die pathologischen Veränderungen an den Bewegungssegmenten der Wirbelsäule: Bandscheiben, Wirbelkörper, Zwischenwirbelgelenke (Intervertebralgelenke / Facettgelenke) und den Zwischenwirbellöchern (Intervertebralforamina). Hier finden wir Bandscheibensinterung, Facettgelenksarthrose, Wirbelgleiten, Einengung des Wirbelkanals und der Intervertebralforamina (Spinalstenose), Bandscheibenvorfälle, arthrosebedingte Zysten. Aber auch Veränderungen an dem verlängerten Rückenmark und den durch die Intervertebralforamina in die Peripherie gehenden Nervenwurzeln (z. B. Ischiasnerv).
Und: Alle diese anatomischen Strukturen sind mit Muskeln, Bändern und Sehnen verbunden.
Alle anatomischen Strukturen: Knochen, Gelenke, Bandscheiben, Muskeln, Sehnen, Bänder können Schmerzursache sein und bedingen sich in ihrer Schmerzentstehung häufig gegenseitig.
Aber viele Schmerzen sind primär dysfunktionell (Funktionsstörung) – und weniger anatomisch bedingt. Deshalb sind viele Kreuzschmerzen eher „nicht spezifisch“ (85%) im Gegensatz zu den sogenannten „spezifischen“ Kreuzschmerzen (15%).
Der nichtspezifische akute Kreuzschmerz ist definiert als ein Schmerz im Rückenbereich, unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalte, mit oder ohne Ausstrahlung in das Gesäß oder in die Beine – ggfs. eine eher diffuse Ausstrahlung!!
Beim nichtspezifischen akuten Rückenschmerz handelt es sich um einen Schmerz, der „keine spezifische Ursache“ hat.
Um den nichtspezifischen und spezifischen Kreuzschmerz gegeneinander abzugrenzen, gibt es die sogenannten Red flags. Und um den akuten vom chronischen Kreuzschmerz abzugrenzen gibt es die sogenannten Yellow flags.
Red flags:
Hier bestehen als Schmerzursache z. B. Frakturen, Tumore, Infektionen oder sogenannten Radikulopathien / Neuropathien, wie wir sie beim Bandscheibenvorfall, bei der Spinalstenose mit der typischen Schmerzstraße und dermatombezogener Taubheit in den Beinen kennen. Aber auch Schwäche, Lähmung, sogenannte Caudasymptomatik (Blase- und / oder Darmentleerungsstörungen).
Yellow flags:
Sie beinhalten psychosoziale Risikofaktoren, wie z. B. Depression, Hoffnungslosigkeit, Katastrophisierung, negativer Stress, Angst und Vermeidungsverhalten, psychopathologische oder psychosomatische Störungen.
Weitere Risikofaktoren sind vorhanden: z. B. bei Schwerarbeitern, insbesondere Arbeiter, die in monotoner Zwangshaltung arbeiten müssen, bei Patienten mit geringer beruflicher Qualifikation und gleichzeitiger Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverlust. Mobbing. Patienten mit vielen unterschiedlichen Erkrankungen und/oder multikausaler Genese (Polymorbidität).
Zahlreiche medizinische Forschungs- und Berufsverbände haben gemeinsam die sogenannten Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) entworfen, die für den Normalfall die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bei einem Patienten festlegen. Die Versorgungsleitlinien basieren auf vielen wissenschaftlichen Untersuchungen, die auf ihre Wertigkeit und Aussagekraft hin überprüft wurden. Und sie basieren auf vielen wissenschaftlichen Statistiken zur Berechnung der Effektivität und Aussagekraft von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen: die sogenannte „Evidence based medicine“.
So wird beim nichtspezifischen akuten Kreuzschmerz entsprechend der Nationalen Versorgungsleitlinien empfohlen, dass in den ersten Wochen bei einem Erstereignis keine routinemäßigen bildgebenden Verfahren eingesetzt werden, wie z. B. Röntgen, Kernspintomographie und Computertomographie.
Nur bei Existenz der Red flags, bei länger anhaltenden subakut oder chronischen Schmerzen, bzw. bei Therapieresistenz oder sogar Verschlechterung trotz leitliniengerechter Therapie soll Röntgen, Kernspintomographie, Computertomographie, Szintigraphie ggfs. PET oder NMR – Myelographie eingesetzt werden.
Und ähnliche Leitlinien bestehen für die Therapie des nichtspezifischen akuten Kreuzschmerzes (NVL! EBM!). Diese Leitlinien beinhalten primär die Motivierung des Patienten zur weiter aufrechtzuerhaltenden körperlichen Aktivität. Patienten werden zusätzlich durch die Tatsache motiviert, dass es sich um ein ausgesprochene günstige Prognose handelt, so stark der Schmerz im Augenblick auch sein mag. Schonung ist „falls notwendig“ angesagt! Bettruhe soweit irgend möglich jedoch zu unterlassen!! Ggfs. kurzfristige Stufenbettlagerungen zur Entlastung der Wirbelsäule – die körperliche Aktivität ist im Rahmen des bestehenden Schmerzes jedoch immer vorzuziehen. Auch Krankengymnastik wird nur bei subakuten und chronischen Schmerzen empfohlen; Manuelle Therapie, ggfs. auch bei akuten Schmerzen.
Immer wieder wird die Edukation des Patienten in den Vordergrund gestellt: Motivation zur Eigentherapie, Rückenschulung, Erlernen von wirbelsäulenfreundlichem Verhalten, Prävention, regelmäßiges Training der Bauch-, Rücken- und Gesäßmuskulatur, Einsatz von wirbelsäulenfreundlichen Büromöbel…
Nicht evidence basiert für den nichtspezifischen akuten Kreuzschmerz sind Laser, Akupunktur, Tens-Gerät, Magnetfeld, Massagen….
Auch die medikamentöse Behandlung ist bei dem nichtspezifischen akuten Kreuzschmerz sehr begrenzt: ggfs. NSAR (Ibuprofen, Diclofenac), nicht-opioide Analgetika (Paracetamol, Metamizol) ggfs. Cox 2 Hemmer (Arcoxia, Celecoxib), ggfs. Opioide (Tramadol / Tilidin – N). Ggfs. Keltikan forte und Vitamin B.
Auch werden in der ersten Akutphase des nichtspezifischen Kreuzschmerzen Muskelrelaxantien eher nicht eingesetzt!
Auf die Verordnung als Generika ist zu achten!
Unabhängig von Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) und Evidence based medicine (EBM) wird von fachärztlicher Seite empfohlen, dass der Patient nach ca. 2 Wochen (spätestens nach 6 Wochen Therapieresistenz) vom Hausarzt zum Facharzt, ggfs. zum Schmerztherapeut überwiesen wird, um dort nochmals die Red flags und Yellow flags abzufragen. Zu hinterfragen ist ebenso, inwieweit es sich um einen spezifischen Kreuzschmerz oder einen bereits chronischen Schmerz bzw. eine Chronifizierung des Schmerzgeschehens handelt.
Hierzu bedarf es einer Differenzierung der Symptome, einer differentialdiagnostischen Untersuchung, insbesondere auch einer exakten Erhebung eines neurologischen Status, ggfs. mit EMG, NLG, SSEP. In diesem Stadium sind spätestens dann auch die bildgebenden Verfahren wie Röntgen, NMR, CT, PET, Szintigraphie… – je nach Bedarf einzusetzen.
Zur Behandlung des spezifischen Kreuzschmerzes werden dann gezielt (delordosierende) Krankengymnastik, Isometrik verordnet. Anleitung zur Eigentherapie durch den Patienten selbst! Edukation / Rückenschule / Muskeltraining der Bauch- und Gesäßmuskulatur.
Die schmerztherapeutische Behandlung erfolgt wie beim akuten nichtspezifischen Schmerz, jedoch breiter verordnet und höher dosiert. Antiphlogistika (NSAR). Analgetika. Opioide. Flupirtin / Muskelrelaxantien. Neurotrope Vitamine / Vitamin B / Keltikan forte.
Auch sind im Rahmen dieser Behandlung die sogenannten „wirbelsäulennahen Injektionen“ indiziert: Periduralinjektionen, Wurzelblockaden, Facettinfiltrationen, Sympatikusblockaden (Ganglion stellatum-Blockaden), Injektion der Ramus communicantes.
Primär können diese Infiltrationen ohne bildgebende Verfahren durchgeführt werden: dies ist eine Methode, wie sie von der IGOST und von Professor Krämer in Bochum inauguriert und gelehrt wird: diese Injektionen können ambulant durchgeführt werden. Anhand von bestimmten knöchernen Markierungen (landmarks) an Becken und Wirbelsäule können sie treffsicher appliziert werden – so dass im Normalfall keine Bildgebung und kein stationärer Aufenthalt notwendig sind. Diese Methode ist wesentlich preisgünstiger, erspart den Patienten einen stationären Aufenthalt, und bedeutet keine Strahlenbelastung: weder für Patient noch für den behandelnden Arzt.
Nur wenn zur exakten Lokalisation der Schmerzursache oder aus anderen Gründen eine 100%ig exakte Nadellage notwendig ist (wie z.B. zur Denervierung kleiner Schmerznerven an den Intervertebralgelenken) – dann können bildgebende Verfahren wie Röntgenbildwandler, Computertomographie oder Kernspintomographie eingesetzt werden.
Weitere therapeutische Maßnahmen beim spezifischen, chronischen oder chronifiziertem Kreuzschmerz sind die Gabe von Antidepressiva, Antiepileptika, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Gewichtsreduktion – die sogenannte multimodale Schmerztherapie.
Neuere Verfahren wie Neuromodulation, Epiduroskopie, Epiduralkatheter sollen hier ebenfalls erwähnt werden. Viele dieser Maßnahmen sind auf der Basis einer ambulanten Behandlung möglich, werden aber von vielen Kassen nicht adäquat vergütet, so dass eine wirtschaftliche Erbringung dieser Leistungen von vielen Institutionen nur stationär angeboten wird. (Dies ist wiederum ein Beweis dafür, wie der Versuch der Einsparung in der ambulanten Medizin durch Ausweichen auf stationäre Behandlungen kläglich scheitert!)
Operative Verfahren zur Therapie des spezifischen und chronischen Kreuzschmerzes sind als „ultima ratio“ anzusehen. Hier kommen Dekompressionsoperationen zur Erweiterung des Spinalkanals und der Intervertebralforamina in Frage. Diese können kombiniert werden mit interspinösen Spreizern, was in der Literatur immer wieder kontrovers diskutiert wird. Darüber hinaus bieten sich Versteifungsoperationen der Wirbelsäule an, die jedoch in jedem Fall nur bei zwingender Indikation, bei ausreichend großem Leidensdruck, bei vollständiger Ausreizung aller konservativer Behandlungsmöglichkeiten indiziert sind. Ebenso besteht eine strenge Indikationsstellung für die Implantation künstlicher Bandscheiben im Bereich der LWS (und HWS).
In jedem Fall ist zu beachten, dass die Operationsindikation bei Patienten mit einer bestehenden Chronifizierung (nach Gerbershagen) sehr streng und sehr vorsichtig zu stellen ist, und der behandelnde Arzt seine gesamte Erfahrung einbringen muss, um – zusammen mit dem Patienten und ggfs. seinen Angehörigen – zu entscheiden, ob trotz Chronifizierungen, die Operation eine ausreichende Chance zur Beschwerdeerleichterung oder sogar zur Beschwerdebefreiung hat.
Inwieweit sich die oben genannten Leitlinien in der Zukunft bewähren, hängt sehr stark von der Akzeptanz unserer Patientin ab: sowohl Ärzte wie Patienten sind in unserer Gesellschaft auf „aktives Handeln“ programmiert. Viele meiner Patienten sind mehr als verwundert, wenn im Falle eines akuten unspezifischen Rückenschmerzes und als „Erstereignis“ keine Röntgenaufnahmen gemacht werden und keine Injektionstherapie angeboten wird – häufig Situationen, wo der Patient sich in seinen Schmerzen nicht ausreichend ernstgenommen und „unterversorgt“ fühlt – und deshalb vielleicht am nächsten Tag einen Kollegen aufsucht, der dann dazu gedrängt wird, Röntgenaufnahmen und / oder Kernspintomographie durchzuführen!! (Ergeben sich dort dann pathologische Veränderungen, fühlt sich der Patient bestätigt, dass der Erstbehandler ihn falsch behandelt und beraten hat – unabhängig von der Frage, ob die im Röntgen und im Kernspintomogramm zu sehenden pathologischen Veränderungen Schmerzsache sind oder nicht!
Quod erat demonstrandum.
Dr. Peter J. Kaisser