Auf dem gesellschaftlichen Hintergrund der demographischen Entwicklung (Methusalem-Komplex/Frank Schirmacher) sowie der erhöhten Aktivität – auch im höheren Alter – wird unser Gesundheitssystem mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Höheres Alter und höhere Aktivität bedeuten mehr Erkrankungen und mehr Verletzungen. Insbesondere der ältere Anteil unserer Bevölkerung hat die berechtigte Erwartung an eine hohe und akzeptable Lebensqualität. Wir alle – Ärzte und Patienten – haben eine übersteigerte „Machbarkeitserwartung“. Und auf Grund der gesellschaftlichen Entwicklung fehlen heute die Familienverbünde; Einzelhaushalte stehen im Vordergrund. Die Alten sind nicht mehr familiär versorgt und betreut.
Die zeitgemäße Entwicklung der operativen Medizin beinhaltet schonende Operations- und Anästhesieverfahren: Kurze postoperative Immobilisation, rasche und effektive postoperative Rehabilitation. Die operativen Eingriffe sind weniger traumatisch – also Gewebe schonend!
Beispiel:
Frakturen werden nicht mehr lange ruhiggestellt, sondern osteosynthetisch mit winkelstabilen Platten und künstlichen Gelenken versorgt. Der operative Eingriff ist relativ „schonend“, die postoperative Behandlung dahingehend erleichtert, dass keine langwierige Immobilisation notwendig ist. Viele operative Eingriffe können ambulant durchgeführt werden. Die rasche Mobilisierung und ggfs. sogar Belastung der operierten Extremitäten führt zu wesentlich weniger Bettlägerigkeit und Muskelschwund. Thrombosen und Embolien sind sehr viel seltener geworden. Die Chancen für eine rasche Rehabilitation sind deutlich erhöht.
Viele Eingriffe werden mit schonenden Zugängen und häufig „endoskopisch“ durchgeführt. Es entstehen wesentlich weniger „Kollateralschäden“ oder Komplikationen.
Dadurch verbessert sich – insbesondere für unsere älteren Patienten – die Lebensqualität. Und wenn dies nur bedeutet, dass sie besser und schmerzfreier zu pflegen sind.
Welche Relevanz hat dies?
Durch die deutlich verbesserte Nutzen-Risiko-Relation ist es in der modernen Medizin zu einer Erweiterung der Indikationsstellung für viele Operationen gekommen; viele Operationen können auch im hohen Alter (und dies bei der bekannten Alterspyramide!!) durchgeführt werden.
Dies bedeutet natürlich eine erhöhte Fallzahl und damit eine Kostensteigerung! Technologische Innovation und teure Implantate, sowie großer Verwaltungsaufwand im Rahmen der Bürokratie und des Qualitätsmanagements spielen bei der Kostenexplosion eine ebenfalls große und entscheidende Rolle.
Wie sieht die Gegenrechnung aus? Was ist preisgünstiger geworden?
Kürzere Krankheitsdauer (AU)! Kürzere Krankenhaus- und Kuraufenthalt! Viele stationäre Operationen können in den ambulanten Bereich verlagert werden!
Trotzdem zeigt die Bilanz, dass unser Gesundheitssystem wesentlich teurer geworden ist – die Kosteneinsparnis wiegt also nicht die erhöhten Kosten für die Errungenschaften der modernen Medizin auf.
Wo wird in der Zukunft die Kostenreduzierung ansetzen?
Es wird mehr Ärztenetze geben. Versicherungen und Kostenträger werden Einfluss nehme auf die Steuerung der Patienten. Es werden Direktverträge zwischen Versicherungen und Ärztenetzen geschlossen. Ebenso Direktverträge zwischen Versicherungen und Kliniken!
Ein wesentlicher Teil der Kostenreduzierung findet jedoch durch die intensivere Förderung der e-Medizin statt: Minister Gröhe setzt auf die sogenannte Telematik (Telekommunikation und Informatik) und er fördert den weiteren Ausbau der elektronischen Gesundheitskarte. Hier liegen – neben der Gefahr des Datenmissbrauchs! – große Chancen einer besser gesteuerten medizinischen Versorgung unserer Bevölkerung: weniger Doppeluntersuchungen, weniger Ärztehopping, keine gefährlichen Doppel- und Dreifach-Verordnung von Medikamenten, schnellste Information von beteiligten Leistungserbringern über die individuelle Erkrankungs- und Behandlungssituation des einzelnen Patienten.
Und – wenn Minister Gröhe`s Konzept aufgeht – soll die telematische Gesamtvernetzung der Leistungserbringer eine optimale Transparenz ermöglichen, so dass eine „allumfassende Versorgungsforschung“ möglich sein wird. D. h.: unsere statistischen Erhebungen bzgl. Risiken, bzgl. der Effektivität von Diagnostik und Therapie, bzgl. der Treffsicherheit präventiver Maßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen wird wesentlich aussagekräftiger. Erst dann werden die „Evidence based medicine (EBM)“ und die „nationalen Versorgungsleitlinien (NVL)“ konsequent und vollumfänglich eingesetzt werden können. Unsere begrenzten finanziellen Ressourcen sollen für die richtigen und wichtigen Leistungen eingesetzt werden (Priorisierung und Rationierung) und kein Geld soll an unnütze, Nicht–Evidenz–basierte Aktivitäten in Diagnose, Screening und Prävention vergeudet werden.
Dies bedeutet aber, dass Ärzte und Patienten gleichermaßen lernen müssen, Statistiken besser zu verstehen und sie dann auch umzusetzen.
Dies gilt gleichermaßen für die Prävention, Screening und für die Vorsorge-Untersuchungen. Hier gibt es in der Zwischenzeit viele Statistiken, die die Effektivität dieser Untersuchungen (siehe die Veröffentlichung von Professor Dr. Gerd Gigerenzer und seine zu diesem Thema erschienenen Bücher) teilweise in Frage stellen, das die Präventionsprogramme teilweise „nicht das halten, was sie versprechen“. Ärzte und Patienten gleichermaßen erwarten sich häufig zu viel von solchen Präventionsprogrammen. D. h. natürlich nicht, dass sie generell nutzlos sind. Aber wir müssen ihren Wert und ihre Aussagekraft je nach Untersuchung und je nach Risikokonstellation des Patienten differenziert bewerten.
Insofern gilt auch nicht grundsätzlich, dass „Prävention billiger ist als Therapie“. Gerne schmücken sich die Gesundheitspolitik und verschiedene Krankenkassen mit dieser Aussage.
Prävention kostet Geld! Sie kann zur Gesundheitsfürsorge und Verbesserung der Lebensqualität / Lebenserwartung häufig einen wesentlichen Beitrag leisten! Aber: Prävention entdeckt nicht nur gefährliche Krankheiten, sondern auch solche, die bis zum Ableben des Patienten unentdeckt geblieben wären – und sicherlich nicht als Todesursache angesehen werden können. Und im Falle von „falsch positiven Ergebnissen“ werden sogar Patienten behandelt, die gar keiner Therapie bedurft hätten. Insofern unterliegen auch die Empfehlungen zur Prävention großen Schwankungen, je nach neuesten Untersuchungsergebnissen, und je nach neuentwickelten diagnostischen und therapeutischen Verfahren.
Um dies umzusetzen, müssen Arzt und Patient gleichermaßen umdenken. Evidence based medicine und Versorgungsleitlinien empfehlen manchmal weniger Aktivität in Diagnostik und Therapie und empfehlen eher ein abwartendes Verhalten. Therapeutischer Minimalismus?
Dies kann in vielen Fällen auch zu Konflikten zwischen Arzt und Patienten führen: der Patient, der mehr Aktivität von seinem Arzt erwartet, muss hier optimal geführt werden und aufgeklärt werden. Die Compliance des Patienten ist von größter Bedeutung. Arzt und Patient müssen gleichermaßen lernen, dass Abwarten manchmal „sinnvoller“ ist als „Aktivität“.
Die Zukunftsperspektive:
- Aussagekraft und Verständnis von Statistiken werden sich verbessern.
- Die Versorgungsforschung wird verbessert.
- Die individualisierte Medizin wird eine größere Bedeutung erhalten – im Rahmen der Diagnostik, der Therapie und der Vorsorge. Dabei werden individuelle Risiken erfasst, genetische und familiäre Risiken werden stärker berücksichtigt werden. Aussagen über die Effektivität evtl. therapeutischer Maßnahmen (z.B. Chemotherapie) können prospektiv gemacht werden.
- Die Kooperation von „allen Partnern“ des Systems ist gefragt.
- Partikularinteressen müssen zurückgestellt werden.
Und trotzdem – oder erst recht – benötigen wir für die individuelle und optimale Betreuung unserer Patienten.
- Spielraum für die Heuristik.
- Spielraum für Innovationen.
- Spielraum für die individuelle empathische Betreuung und Führung unserer Patienten.
Kochbuch-Medizin darf nicht die verantwortungsvolle und individuelle Behandlung unserer Patienten ersetzen!!!
Dr. med. Peter J. Kaisser