Chronifizierung von Schmerzen – an Hand eines Fallbeispiels mit CRPS / Sudeck-Syndrom (ein Fall aus einer interdisziplinären Schmerzkonferenz)

Wir alle kennen die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Schmerzen. Im Allgemeinverständnis unterscheiden sich diese beiden Schmerzarten durch die „Zeitschiene“, wie sie auch festgelegt ist in den Nationalen Versorgungsleitlinien zur Behandlung des unspezifischen Rückenschmerzes (NVL). Die Zeitschiene wird unterschiedlich angegeben; es gibt keine strenge Definition. Die Angaben schwanken zwischen 3 Wochen und 6 Monaten. Der akute Schmerz unterscheidet sich vom chronischen Schmerz durch seine Dauer.

 

Eine andere Bewertungsqualität der chronischen Schmerzen findet sich in dem Begriff der „Chronifizierung“. Die Chronifizierung wird in drei Stadien nach Gerbershagen eingeteilt. Sie beinhaltet nicht so sehr die Zeitdauer der Schmerzen, als vielmehr die Schmerzqualität, die subjektive Wahrnehmung des Schmerzes, die Häufigkeit und Dauerhaftigkeit des Schmerzes, sowie die Verteilung der Schmerzen im Körper.

Typisch für die Chronifizierung ist die Tatsache, dass sich die Schmerzursache von einem Schmerzentstehungsort losgelöst und verselbständigt hat. Die Schmerzempfindung entsteht vielmehr durch Umbauten im zentralen Nervensystem und durch entsprechende Stoffwechselveränderungen: in der modernen Neurophysiologie als „Neuroplastizität“ bezeichnet.

Mit laienhaften Worten: der von dem Patienten (zum Beispiel am Kniegelenk) wahrgenommene Schmerz ist nicht auf Veränderungen am Kniegelenk selbst (z. B. Meniskusriss, Knorpelschaden, Arthrose…) zurückzuführen, sondern wird von dem Patienten wahrgenommen, weil sich neuroplastische Vorgänge im zentralen Nervensystem oder im Gehirn abspielen. Diese Veränderungsprozesse benötigen eine gewisse Zeit zu ihrer Entstehung – insofern ist auch bei der Chronifizierung eine gewisse Zeitschiene von Bedeutung; diese ist aber nicht klar definiert und steht nicht im Vordergrund der Definition bzw. Diagnosestellung.

Bei der Chronifizierung spielt die Schmerzanamnese eine große Rolle, also die Frage, wann und in welchem Zusammenhang die Schmerzen entstanden sind und immer wieder erneut auftreten (Rezidiv). Es werden darüber hinaus aber auch die Häufigkeit der Arztbesuche, vorausgegangene ambulante, stationäre oder sogar operative Behandlungen erfasst.

Und nicht zuletzt: das soziale Umfeld eines Patienten, seine psychosoziale Situation im Privatbereich und im Berufsleben spielen eine große Rolle. Zum Beispiel: Stress, Mobbing, Trennung, Tod von engen Bezugspersonen, Arbeitslosigkeit, Unfälle, Kriegstraumata und andere körperlich und seelische Traumatisierungen, wie z. B. Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch.

Diese anamnestischen Vorereignisse führen häufig bei Patienten zu schweren und signifikanten psychischen und psychosomatischen Konfliktsituationen, die dann – wenn diese Problematik im Vordergrund steht – primär in die Hand eines Psychotherapeuten oder Psychiaters gehören. Eine begleitende psychomedikamentöse Behandlung erscheint in vielen dieser Fälle – zumindest vorübergehend – als wünschenswert und sinnvoll.

Die oben geschilderten Chronifizierungsprozesse laufen häufig bei Patienten ab, die im weitesten Sinne „Probleme“ mit der Wirbelsäule haben. Darüber hinaus ist häufig festzustellen, dass es sich um Patienten handelt, die viele verschiedene Krankheiten zu gleicher Zeit haben (Polymorbidität). Typisches Erscheinungsbild: wahrnehmungsmäßig sind diese Patienten voll durch ihre Krankheiten, Arztbesuche, therapeutische Sitzungen…besetzt. Ihr Denken kreist nur um ihre Krankheit. Auch zeitlich opfern sie einen großen Anteil ihres Alltags der Beschäftigung und Bewältigung (?) ihrer Schmerzen. Dadurch sinkt gleichzeitig ihre Arbeitsfähigkeit und Konzentrationsfähigkeit. Müdigkeit bis hin zur Depression stellt sich ein. Ein Circulus vitiosus aus dem nur schwer herauszukommen ist!

Wie oben dargestellt ist zur Behandlung dieser polymorbiden und psychosomatischen Gesamtkonstellation nur eine multimodale, interfakultative, polypragmatische Therapie sinnvoll und zielführend. Die psychosomatische und psychovegetative Komponente darf bei diesen Patienten nicht außer Acht gelassen werden – eine gleichzeitige (medikamentöse) antidepressive Therapie ist in vielen Fällen notwendig und sinnvoll.

Fallbeispiel: CRPS- / Sudecksyndrom

Sturz einer Patientin auf die Hand mit Handgelenksbruch (Radius). Der in Fehlstellung befindliche Bruch wird reponiert. Bleibt in guter Stellung und in Gipsimmobilisation stabil, so dass nicht einmal ein operativer Eingriff notwendig ist. (Heute werden distale Radiusfrakturen häufig mit winkelstabilen Plättchen und Schräubchen versorgt. Dieses zusätzliche operative Trauma war in diesem Fall nicht notwendig.) Anfänglich normaler weiterer Verlauf bei typischer Gipsruhigstellung, bis dann die Patientin bemerkte, dass sie trotz antientzündlichen Schmerzmitteln und Ruhigstellung nicht wirklich schmerzfrei wurde. Nach Gipsentfernung zeigte sich eine noch immer mäßige Schwellung des Unterarmes und der Hand. Keine Taubheit, jedoch leichte Empfindungsstörungen bis hin zu einer Überempfindlichkeit der Hand. Leichte Verfärbung der Haut. Temperaturunterschied im Vergleich zur Gegenseite. Noch keine Glanzhaut.

In der Röntgenaufnahme zeigte sich eine leichte Entkalkung des Knochens, die jedoch nicht eindeutig als pathologisch definiert werden konnte, da es durch die reine Ruhigstellung und den Mindergebrauch des Unterarmes und der Hand ebenfalls zu Entkalkungen des Knochens kommen kann. Die für ein CRPS- / Sudecksyndrom typische „fleckige“ Entkalkung des Handknochens kann zu diesem Zeitpunkt (häufig) noch nicht gesehen werden.

Die kernspintomographische Untersuchung zeigte neben der Aktivität im Frakturbereich deutliche Entzündungszeichen in den Weichteilen und teilweise auch im Knochen. Dies sind für das CRPS- / Sudecksyndrom typische Veränderungen – sie haben nichts mit einer bakteriellen Infektion zu tun!

Bei weiteren Röntgenkontrollen zeigte die Fraktur in relativ normalem Zeitraum von ca. 6 Wochen eine gute Heilung – jedoch die subjektiven Beschwerden der Patientin bildeten sich nur sehr langsam (bis gar nicht) zurück: Schwellung, Sensibilitätsstörungen, Funktions- und Bewegungseinschränkung, und weiterhin Schmerzen! (Teilweise in Ruhe, insbesondere aber bei Bewegung und Belastung.) Die Schmerzstärke schwankt über den Tagesverlauf hinweg sehr stark. Teilweise auch nächtliche Schmerzen. Hand und Unterarm sind in diesem Stadium nicht gebrauchsfähig.

Fazit: Es handelt sich um ein typisches CRPS- / Sudecksyndrom bei Chronifizierung des Schmerzgeschehens.

Die Behandlung einer solchen Störung ist sehr komplex: antientzündliche, analgetische Medikamente. Antidepressiva / Antiepileptika. Vorsichtige Krankengymnastik und physikalische Therapie. Keine forcierte Bewegungstherapie, sondern nur vorsichtige Mobilisation. Ggfs. vorsichtige Lymphdrainage und milde Wärme / Eistherapie. Ausschaltung der psychovegetativen Regelmechanismen durch verschiedene Formen von psychisch wirkenden Medikamenten. Erlernen von „mentalen Entspannungtechniken“.

Zeit und Geduld, Compliance und „positiven Denken“ sind von eminenter Bedeutung.

Auf drei spezielle Therapiemodalitäten soll gesondert hingewiesen werden:

  1. Es gibt spezielle Injektionstechniken, die das sympathische / parasympathische  Nervengeflecht positiv beeinflussen. Diese Injektionsstellen befinden sich für den Arm im Bereich der Halswirbelsäule (Ganglion-stellatum). Für die untere Extremität im Bereich der Lendenwirbelsäule ca. auf Höhe des 3. Lendenwirbelkörpers (ebenfalls sympathisches Ganglion). Die Injektionen mit Lokalanästhetika, ggfs. unter Kortison-Zusatz (off-label-use) führen zu einer Blockade und dadurch Normalisierung des nervösen Imput in die befallene Extremität, und somit zu einer Heilung der gestörten trophischen, neuroregulativen und Stoffwechsel bedingen Prozesse.
  1. Verschiedene Medikamente, die primär zur Behandlung der Osteoporose eingesetzt werden, können auch beim CRPS- / Sudecksyndrom zu einer Normalisierung des Knochenstoffwechsels führen und damit das sogenannte Knochenödem (Bone bruise) beseitigen.
  1. Spiegeltherapie: Zwischen die gesunde und die erkrankte Extremität wird ein Spiegel gestellt, so dass dem Patient bei Bewegung seiner gesunden Hand vorgegaukelt wird, dass sich die erkrankte Extremität bewegt. Und dies ohne Schmerzen! Und insbesondere mit der illusorischen Wahrnehmung, dass die schmerzfreie Beweglichkeit auf der betroffenen schmerzhaften Seite möglich ist. Dies stellt einen wichtigen Lernprozess im Zentralnervensystem bzw. Gehirn dar, so dass sich die neuroplastischen Vorgänge auf diesem Weg zurückbilden können.

Der oben geschilderte Fall ist nur ein Beispiel von vielen Möglichkeiten, wo und nach welchen Ereignissen Sudeck-Syndrome auftreten können. Wir werden in einem späteren Artikel auf dieses Thema zurückkommen.

Soviel sei jedoch an dieser Stelle verraten: die betreffende Patientin, deren Schicksal oben dargelegt wurde, ist nach einer ca. 4-monatigen Behandlung jetzt nahezu beschwerdefrei. Die Hand ist wieder funktionstüchtig. Es bestehen nur noch endgradige Bewegungseinschränkungen. Die oben dargelegte Therapie wurde im vollen Umfang für die Patientin eingesetzt und führte somit zu einem guten Erfolg – wenngleich auch nach einer langen Behandlungsdauer. Geduld ist gefragt (s.o.)!!

Dr. med. Peter J. Kaisser