Der Orthopäden- und Unfallchirurgenkongress in Baden-Baden hat eine lange Tradition: Wir haben dieses Jahr unsere 62. Jahrestagung dort durchgeführt. Der Kongress in Baden-Baden gehört zu den beiden großen nationalen / internationalen Orthopäden- und Unfallchirurgenkongressen in Deutschland: Im Frühsommer treffen sich Wissenschaftler, Klinik- und niedergelassene Ärzte in Baden-Baden; im Oktober findet die noch größere Veranstaltung dann in Berlin statt. Diese beiden „zentralen“ Kongresse beinhalten gleichzeitig große Industrieausstellungen. Neue Forschungsergebnisse werden präsentiert. Gleichzeitig findet aber auch eine selbstkritische Standortbestimmung statt:
Nicht nur über den Arztberuf wird hier reflektiert, sondern vielmehr über Gestaltung, Veränderung und Infrastruktur unseres gesamten Gesundheitssystems, seine soziale Relevanz und seine zeitgemäße Fortentwicklung.
Hierzu gehören auch Fragen, die den medizinischen Nachwuchses betreffen, oder die Finanzierbarkeit unserer modernen Medizin (bei zunehmend älterwerdender und anspruchsvoller Bevölkerung: Methusalemkomplex).
Zusätzlich wurden dieses Jahr zwei wichtige Themen angesprochen:
1. “Wirbelsäule – operieren wir zu viel?“
2. “Karrierestrategien für Frauen in der Medizin“
Zu Thema I werde ich in diesem Beitrag Stellung nehmen. Das Thema II wird in einer gesonderten Abhandlung ebenfalls veröffentlicht und kann für interessierte Leser im Internet abgerufen werden.
Die Frage, ob in der modernen Orthopädie und Unfallchirurgie zu viel operiert wird, wie dies gelegentlich von der Presse und von den Kassen behauptet wird, kann nur beantwortet werden, wenn wir uns gleichzeitig die Statistiken anschauen, die zu diesem Thema veröffentlicht werden. Nur saubere, korrekte wissenschaftlich signifikante Statistiken können eine so schwerwiegende und relevante Frage fundiert beantworten.
Und wie dies in der Wissenschaft notwendig ist: es muss auch die Gegenfrage gestellt werden: Operieren wir vielleicht oder manchmal zu wenig? Welche Folgen hat es für die Patienten, wenn notwendige Operationen nicht oder verzögert durchgeführt werden.
Wieviel wissenschaftlich fundiertes Material haben wir an der Hand bezüglich der Frage, wie lange konservativ behandelt werden soll oder behandelt werden kann. Und ab wann ist ein operatives Vorgehen sinnvoll oder sogar zwingend notwendig?
Zu den Statistiken: Leider muss man hier sagen, dass manchmal Äpfel mit Birnen verglichen werden, da nämlich in älteren Statistiken therapeutische Maßnahmen anders codiert wurden als dies heute der Fall ist. Die Codierungen lassen sich nicht immer miteinander vergleichen. Sehr neue und moderne Eingriffe finden logischerweise in früheren Statistiken keinen Niederschlag – also ist hier ein exakter wissenschaftlicher Vergleich nicht möglich.
Die OP-Codierungen werden heute auf Grund der neuen Verrechnungssysteme teilweise anders durchgeführt, als früher: sie sind „EBM“ basiert!! Aus diesem Grund besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Eingriffe, die früher mit einer (!) komplexen Nummer codiert wurden, heute mit 3 oder 4 verschiedenen Ziffern codiert werden – quasi als Teilschritte einer Operation, wie sie auch abrechnungsmäßig abgebildet werden und mit verschiedenen Codes belegt werden.
Dies steht auch im Zusammenhang mit der Tatsache, dass heute für die Erfassung der Morbidität unserer Patienten alle Zusatzerkrankungen miterfasst werden: auch hier möglicherweise eine logische und richtige Ausweitung der Anzahl eingetragenen Codierungsziffern. Die Tatsache, dass die Kliniken heute nach Fallpauschalen (DRG) bezahlt werden, diese DRG`s aber abhängig von den Diagnosen (Co-morbidität), den Risiken und den Komplikationen sind, schafft eine veränderte Codifizierungsgrundlage im Vergleich zu früher.
Also: unsere statistischen Vergleiche stehen auf relativ wackligen Beinen für so schwerwiegende Aussagen, die von verschiedenen Seiten politisch intendiert, nicht nur als Fakten, sondern als vehemente Vorwürfe an die Ärzteschaft gerichtet sind.
Von den prominenten Diskutanten dieser Podiumsdiskussion wurde dargelegt, dass wir Ärzte in einem Gesundheitssystem leben, das wir nicht wollten, aber jetzt für die Folgen verantwortlich gemacht werden!
Operationen sind heute so viel kleiner und weniger invasiv, dass ihre Indikationsstellung sehr ausgeweitet werden konnte. Es handelt sich teilweise um minimalste Eingriffe, die auch an Patienten in nicht gutem Allgemeinzustand und/oder in hohem Alter durchgeführt werden können. Sowohl unsere chirurgischen wie auch anästhesiologischen Verfahren sind dahingehend weiterentwickelt worden, dass die Nutzen-Risiko-Kalkulation, die jeder Operation zu Grunde liegen muss, eindeutig in Richtung Nutzen sich verschoben hat. Darüber hinaus wird unsere Bevölkerung immer älter (Alterspyramide): das heißt im Alter treten mehr Erkrankungen auf, der alternde Mensch hat zunehmend (zu Recht!) Ansprüche an eine weiterbestehende optimale Lebensqualität, und der alternde Mensch bleibt heute viel länger aktiv als in früheren Zeiten. Seine medizinische Versorgung unterliegt ganz anderen und höheren Ansprüchen als früher! Die Alterspyramide bedeutet mehr medizinische Leistungen, also auch mehr (wenig traumatisierende!) Operationen!
Trotz dem oben gesagten muss kritisch hinterfragt werden, ob es nicht doch Bereiche gibt, in denen zu viel operiert wird. Ob unser heutiges Abrechnungssystem in der Praxis oder in der Klinik zu Operationen „motiviert“ und „verleitet“. Und selbstkritisch ist zu hinterfragen, ob „unethische“ Klinikverträge, die neuen Chefärzten aufgezwungen werden, ebenfalls zu einer Ausweitung der operativen Tätigkeit führen: wenn Steigerung der Operationszahlen oder Mindestzahl an operativen Eingriffen vorgegeben werden und die Existenz der Stelleninhaber von der Einhaltung solcher Rahmenbedingungen abhängig gemacht wird. Die Ärztekammern haben sich diesbezüglich schon vor längerer Zeit eindeutig gegen solche Verträge ausgesprochen. Sie werden wahrscheinlich in Zukunft keine wesentliche Rolle mehr spielen.
Es ist keine neue Erkenntnis – sie wurde aber jetzt auf dem Symposium neu angesprochen: für eine exakte Indikationsstellung für Operationen ist es notwendig, dass ein kompetentes Wissen vorliegt, wie lange eine bestimmte Erkrankung konservativ behandelt werden kann – und andererseits, wie die Erfolgsaussichten und die Risikolage einer ggfs. notwendigen Operation aussieht. Auf Grund der früher strikten Trennung zwischen ambulanter / konservativer Behandlung und stationär / operativer Behandlung fand keine ausreichend breite Wissensvermittlung für beide Behandlergruppen statt: die konservativen niedergelassenen Ärzte und die operativ tätigen Klinik-Ärzte hatten eine sehr selektive Wahrnehmung bestimmter Krankheitsbilder und ihrer Therapie – und deshalb war der Übergang von konservativer zu operativer Behandlung kein „fließender“. Die Experten der Podiumsdiskussion haben deshalb die Forderung gestellt, dass es sinnvoll wäre, in Zukunft Zentren zu etablieren, in denen die konservative und operative Behandlung gleichzeitig nebeneinander existiert und die jeweiligen Experten sozusagen als Team die Indikation für eine Operation gemeinsam stellen. Günstig wäre sicherlich gleichzeitig, wenn die konservativ und operativ tätigen Ärzte und Abteilungen gleichermaßen am wirtschaftlichen Gewinn beteiligt sind, so dass weder die konservative Therapie noch die operative Therapie aus irgendwelchen wirtschaftlichen Gründen „favorisiert“ wird.
Auf diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, dass seit etlichen Jahren das Belegarztsystem in Deutschland zunehmend in Kritik kommt und in vielen Bundesländern weit unterrepräsentiert ist. Darüber hinaus gibt es politische Richtungen, die das Belegarztwesen zugunsten der hauptamtlich stationären Abteilungen zunehmend einengen bzw. eliminieren wollen. Gerade das belegärztliche System realisiert die oben gestellte Forderung, dass die ambulante konservative und stationäre operative Tätigkeit in einer Hand ruht: Belegärzte führen Praxen, in denen sie ihre Patienten, diagnostizieren und konservativ behandeln – und sie sind gleichzeitig die Spezialisten, die dann bei der Notwendigkeit einer Operation die Patienten in ihre Belegabteilung einweisen und sie dort dann auch selbst operieren. Konservativ und operativ bleibt hier in einer Hand.
Was in den öffentlichen Diskussionen, die im Augenblick sehr „populistisch“ gegen das Operieren geführt wird, häufig nicht beachtet wird, ist:
1. Die Frage: inwieweit eine ambulante konservative Behandlung „vollständig ausgereizt“ ist
2. Die Frage: des richtigen Operationszeitpunktes
3. Die Frage: was sind die negativen Folgen, einer zu späten oder gar nicht erfolgten Operation.
Hier spielt natürlich die Installation der „nationalen Versorgungsleitlinien“ (NVL) eine große Rolle. Sie geben in weiten Bereichen das therapeutische Procedere vor!
Und darüber hinaus spielt eine wesentliche Rolle, inwieweit Evidenz basierte (EBM) statistisch signifikante Untersuchungen vorliegen, die z.B. ein klares Handlungskonzept an die Hand geben, ab wann operiert werden muss.
Experten hatten zu diesem Thema Vorträge gehalten: dass ein Bandscheibenvorfall, der nicht konservativ zufriedenstellend behandelt werden kann, innerhalb von zwei bis 3 Monaten operiert werden soll, damit keine Chronifizierung der Schmerzen auftritt und darüber hinaus die Prognose der Operation sich nicht verschlechtert: auch die Geschwindigkeit der Heilung kann vom Operationszeitpunkt abhängig sein (Notfälle, wie Lähmungen, unerträgliche Schmerzen… sind von solchen Überlegungen natürlich ausgenommen.)
Insgesamt muss dieses Podiumsgespräch als eine sehr gelungene und sehr lebendige Diskussion angesehen werden. Sie ist der Präsidentin dieses Kongresses, Frau Professor Andrea Meurer zu verdanken, die auf dem diesjährigen Kongress neue Themen zur Diskussion stellen wollte – und auch die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge darstellen wollte. Frau Professor Meurer ist die erste weibliche Präsidentin in der Geschichte der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen: wir gratulieren ihr zu diesem erfolgreichen Kongress und den ausgesprochen interessanten und innovativen Fragestellungen.
Dr. med. Peter J. Kaisser