Diese Veröffentlichung beruht teilweise auf der Zusammenfassung einer Sitzung des „Schwabinger Ärztezirkels“ vom 28.11.2013. Der Referent, Dr. med. Hannes Blankenfeld (FA für Allgemeinmedizin mit Zusatzstudium in Epidemiologie / Public health) hat es verstanden, die schwierige Materie verschiedener Screening- Programme und ihrer statistisch-mathematischen Hochrechnungen darzulegen – insbesondere, um uns immer wieder klarzumachen, inwieweit ärztliche Erfahrungswerte und eher „emotionale“ Diagnosen und Beurteilungskriterien im Widerspruch zu dem stehen, was uns die Mathematik und Statistik vorgibt. Wir wurden daran erinnert, dass wir uns mit Fragen der Prävalenz, Inzidenz, Validität, Sensitivität und Spezifität auseinandersetzen müssen, wenn Screening das erbringen soll, was Ärzte, Patienten und Politik erwarten und auch propagieren.
Entscheidender Ansatz für die Betrachtung von Screening-Untersuchungen ist die Unterscheidung zwischen einem Screening, welches die gesamte Bevölkerung betrifft, ohne jede Vorauswahl. Im Gegensatz hierzu ist das modifizierte Screening zu sehen, bei welchem eine Selektion nach Altersgruppen, Risikogruppen, Geschlecht, Vorerkrankungen … getroffen wird. Eine relative Modifikation des Screening entsteht dadurch, dass zu bestimmten Screening-Untersuchungen natürlich bevorzugt entweder Angehörige von Risikogruppen gehen – oder die „besonders Gesundheitsbewussten“.
Screening-Untersuchungen können fehl interpretiert werden, wenn wir von „Lebensverlängerung“ sprechen – damit aber nur zum Ausdruck kommt, dass die Diagnose einer bestimmten Krankheit durch das Screening eben früher gestellt wurde, der erwartete Todeszeitpunkt jedoch unverändert entsprechend der statistischen Wahrscheinlichkeit festgelegt ist. Es handelt sich also um eine „scheinbare“ Lebensverlängerung. Eine bessere Aussage über die Überlebensdauer nach Diagnosestellung einer Krankheit machen randomisierte prospektive Studien, die jedoch häufig sehr aufwendig und kostenintensiv sind, und darüber hinaus eine große Anzahl von zu untersuchenden Patienten/Probanden erfordern.
Die Aussagekraft einer Screening-Untersuchung ist unter anderem davon abhängig, wie hoch die Prävalenz (Häufigkeit) der entsprechenden Krankheit ist. Entscheidend ist letztendlich dann das Verhältnis der Neuentdeckung „bislang nicht diagnostizierter Krankheiten“ in Relation zu „falsch- positiven Diagnosen“, (Sensitivität / Spezifität / positiv-prädiktiver Wert).
Ebenso bedeutend ist das Verhältnis, der durch das Screening bedingten diagnostischen und therapeutischen Folgen: „Nettoschaden zu Nettonutzen“.
Wenn in Screening-Programmen die Rate der neuentdeckten Krankheiten überdimensional zunimmt, ist dies mit großer Wahrscheinlichkeit dem zunehmenden Alter / zunehmender Lebenserwartung zuzuschreiben – möglicherweise jedoch auch einer überdimensional großen Anzahl von falsch positiven Screening-Ergebnissen. Wird das Alter herausgerechnet und zeigt sich gleichzeitig ein Absinken der Sterberate – dann bedeutet dies, dass durch Screening bzw. die daraus resultierende Therapie die Ergebnisse „besser geworden sind“.
Unterschiedliche Länder mit unterschiedlicher Krebshäufigkeit zeigen z.B. beim Prostatakarzinom nahezu gleiche Sterberaten: das heißt, hier handelt es sich in gewissen Ländern mit großer Wahrscheinlichkeit um eine „Überdiagnose“, also zu viel falsch positive Ergebnisse. Der Erfolg großer Screening-Studien muss immer wieder neu kritisch hinterfragt und relativiert werden. Wenn in einer großen Screening-Krebsstudie nur ein Patient von 10.000 Probanden pro Jahr weniger stirbt, so ist das ein relativ „dürftiges“ Ergebnis für den riesigen Aufwand – und dabei ist noch nicht einmal sicher gesagt, dass dieser Patient auch an dieser Krebserkrankung stirbt, die bei dem Screening entdeckt wurde. Möglicherweise stirbt er an einem Herzkreislaufversagen? Oder Unfall? Oder anderer Erkrankung…
Und besonders fragwürdig wird das Screening-Programm dann, wenn in der gleichen Patientenkorhorte statistisch davon ausgegangen werden muss, dass von diesen 10.000 Patienten beispielsweise 48 überdiagnostiziert, übertherapiert und möglicherweise unnötig operiert werden.
Also was tun? Welches Fazit können wir ziehen?
Das Screening des Zervixkarzinom bei Frauen und des Colon-Karzinoms bei Männer und Frauen zeigt eindeutig mehr Nutzen als Schaden. Es ist also empfehlenswert.
Andere Screening-Programme – und darüber gibt es in letzter Zeit weltweit zunehmend Veröffentlichungen – sind eher mit Vorsicht zu betrachten. Sie machen eigentlich nur dann Sinn, wenn sie auf Grund zusätzlicher ärztlicher Untersuchungs- und Auswahlmethoden und zusätzlichen diagnostischen Verfahren zu einer Erhöhung der Prävalenz des entsprechenden Krankheitsbildes führen und damit zu einer Erhöhung der Treffsicherheit.
Generell ist zu konstatieren, dass die epidemiologischen Studien, ihre mathematische und statistische Berechnung, uns einen gewissen Wahrscheinlichkeitsrahmen vorgeben. Inwieweit diese statistische Wahrscheinlichkeit für das einzelne Individuum realisiert wird, bleibt unbeantwortet. Und in genau diesem Dilemma steht der beratende Arzt, sowie der zur Entscheidung gezwungene Patient!! Welches theoretische Risiko geht der Patient ein und welches Verhältnis von Nutzen zu potentiellem Schaden ist der einzelne Patient bereit zu akzeptieren. Hier bedarf es der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen reflektierten, nüchtern denkenden Ärzten und einem ebenfalls zu einer klaren Analyse bereiten Patienten.
Die Diskussion über die Effizienz des Brustkrebs-screenings durch Mammographie ist weiterhin ein großes Thema.
Pro Screening / Professsor Kreienberg: Die deutlich zunehmende Zahl diagnostizierter Frühstadien im Screening ermöglicht es, immer weniger eingreifend behandeln zu müssen oder auf schonende Operationsverfahren zurückgreifen zu können. Bei einigen Patientinnen könne sogar auf die Chemotherapie verzichtet werden – wieder ein Stück weit mehr Lebensqualität für die Frau.
Contra Screening / Professor Gotzsche: Es konnte nicht gezeigt werden, dass Frauen, die sich dem Screening unterziehen generell länger leben, als diejenigen, die nicht zum Screening gehen. Es wurden wohl 30% mehr Mammakarzinome entdeckt; gleichzeitig führte dieses Screening aber auch zu einer erheblichen Überdiagnose.
Beim flächendeckenden Screening durch Hüftsonographie bei Säuglingen und Kleinkindern fällt die Bilanz eher positiv aus. Die Anzahl der Hüftluxationen und deren Spätschäden ist bei Jugendlichen und Erwachsenen deutlich weniger geworden. Also ein positives Fazit.
Ähnlich positiv fällt die Bilanz beim Screening der Osteoporose aus.
Auch das frühkindliche und ggfs. Adoleszenten-Screeningprogramm der Skoliose zeigt in einigen Studien dahingehend ein positives Ergebnis, dass durch die Früherkennung das Ausmaß der Wirbelsäulenkrümmung geringer und schwerwiegende Verläufe mit der Notwendigkeit zu Operationen seltener geworden sind.
Ein Screening des Prostata-Karzinoms beim Mann allein durch die Bestimmung des Blutwertes PAS ist mit Sicherheit nicht zielführend: zusätzliche Maßnahmen im Sinne einer Vorsorgeuntersuchung sind notwendig und empfehlenswert.
Abschließende Gedanken von Dr. Hannes Blankenfeld:
„Früh ist manchmal gut, aber nicht unbedingt besser“.
„Screening kann nutzen, kann aber auch schaden. Die Bilanz ist oft unklar.“
„Screening verursacht Kosten, es spart keine Kosten.“
„Mehr Diagnosen bedeuten nicht mehr Gesundheit.“
Und trotzdem ist zu beachten: Screening ist nicht gleichzusetzen mit „Vorsorgeuntersuchung“. Diese sollten entsprechend der Vorgabe ärztlicher Berufsverbände und der Ärztekammer unbedingt beachtet und durchgeführt werden.
Dr. med. Peter J. Kaisser