Das Postdiskotomie-Syndrom (failed-back-surgery)

 

Ein Zitat von Prof. Krämer in Bochum:

„Ohne Diskotomie gibt es auch kein Postdikotomie-Syndrom.“

Diese bewusst provokativ gemeinte Aussage hat zwei Implikationen:

 

1. eine rein definitorische; das versteht sich von selbst.

2. eine prophylaktische: nämlich die dringende Warnung vor jeder unüberlegten oder  

   überflüssigen Diskotomie!

(Für den Laien: Diskotomie heißt „Bandscheibenoperation.“)

Und genau an diesem Punkt möchte ich mit meinen Überlegungen ansetzen:

Die exakte Diagnose als Voraussetzung zur Bandscheibenoperation erscheint selbstverständlich! Aber die (heute häufig zu früh eingesetzten) bildgebenden Verfahren wie Computer- und Kernspintomographie verführen oft dazu, die eindrucksvolle Darstellung eines Bandscheibenvorfalles sofort und dankbar als Schmerzursache zu akzeptieren. Weniger ins Auge fallende Befunde, die letztendlich die eigentliche Ursache der geklärten Beschwerden sind, werden dafür übersehen.

Beispiel: Einweisung eines Patienten zur Operation in die Klinik aufgrund eines computertomographisch gesicherten Bandscheibenvorfalles LWK5/SWK1.

Auch im NMR Bestätigung des Vorfalles bei LWK5/SWK1 – aber: auch Arthrose und Hypertrophie der Zwischenwirbelgelenke.

Die intraartikuläre Injektionen von Lokalanaesthetika in die Facettgelenke unter Bildwandlerkontrolle ergibt vollständige Schmerzfreiheit des Patienten.

Eine Injektion in den Spinalkanal erbringt überhaupt keine Erleichterung.

Fazit: Der Bandscheibenvorfall war also hier nur asymptomatischer Nebenbefund, das Facettsyndrom die eigentliche Schmerzursache. Eine Diskotomie wäre in diesem Fall sicher zum Misserfolg geworden. Das spätere Postdiskotomie-Syndrom würde in einem solchen Fall wohl besser als Praediskotomie-Syndrom bezeichnet werden – oder um der Wahrheit die Ehre zu geben: als Fehldiagnose.

Die differentialdiagnostische Abklärung konzentriert sich häufig auf die Frage: radikulär oder pseudoradikulär.

Radikulär heißt: Schmerzausstrahlung, Gefühlsstörungen und neurologische Befunde sind der Kompression einer einzigen, exakt definierten Nervenwurzel zuzuordnen. Typisch für den klassischen Bandscheibenvorfall, der je nach Lokalisation unterschiedliche Nervenwurzeln komprimieren kann. Jede Nervenwurzel hat ihre typische Schmerzstraße, ihre Kennmuskulatur und ihr autonomes, sensibles Versorgungsgebiet.

Pseudoradikuläre Symptome halten sich nicht an diese Versorgungsgebiete, sie sind eher diffus: Der Schmerz strahlt meist über die Hüfte bis maximal zum Kniegelenk aus. Er ist häufig brennend, über den Iliosacralfugen und an der Oberschenkelaußenseite lokalisiert.

Auch Gefühlsstörungen im vorderen Bereich des Oberschenkels sind höchst verdächtig auf ein pseudoradikuläres Beschwerdebild (oder auf die Läsion eines Hautnervens am Oberschenkel).

Eine strenge Indikationsstellung zur Diskotomie erscheit selbstverständlich. Nur schwere oder progrediente neurologische Ausfälle zwingen zur sofortigen Operation.

Denn: 80% aller Bandscheibenvorfälle sind mit konservativen Maßnahmen in den Griff zu bekommen.

Da sich nach 6-12 Wochen Beschwerdedauer aber die Prognose einer eventuell doch noch notwendigen Diskotomie verschlechtert, muss diese Zeit konsequent mit allen konservativen Maßnahmen genutzt werden. Bei Therapieresistenz soll dann die Indikation zur Operation „rechtzeitig“ gestellt werden.

Die Operationstechnik hat ebenfalls großen Einfluss auf die Entstehung eines Postdiskotomie-Syndroms.

– Es muss atraumatisch und gewebeschonend operiert werden.

– Ausreichende Dekompression des Rezessus lateralis

– Trotzdem Erhaltung der Facettgelenke zur Vermeidung einer segmentalen Instabilität.

Die korrekte Behandlung eines Bandscheibenvorfalls polypragmatisch, ist mit allen therapeutischen Möglichkeiten, multimodal, ggfs. interdisziplinär anzugehen.

Trotz all dieser „Vermeidungsstrategien“ sehen wird das Postdiskotomie-Syndrom nach Bandscheibenoperation in ca. 6% beobachtet; teilweise werden in der Literatur sogar 15% angegeben.

Der Begriff Postdiskotomie-Syndrom ist und bleibt ein unglücklicher Ausdruck; er ist schwammig und unexakt. Er subsumiert einerseits verschiedene Diagnosen, die besser beim Namen genannt würden, und täuscht andererseits dort eine Diagnose vor, wo wir besser unsere Unwissenheit bekennen würden.

Auch der amerikanische Begriff „failed back surgery“ sagt nur etwas über das nicht erfolgreiche Abschneiden einer vorausgegangenen Operation aus, ohne die eigentliche Ursache zu analysieren.

Das Postdiskotomie-Syndrom lässt sich in 3 Gruppen unterteilen:

a)    Die Gruppe derer, die eigentlich nie hätten operiert werden sollen habe ich eingangs schon vorgestellt. (Praediskotomie-Syndrom!)

b)   Die Gruppe derer, bei denen wir außer der vorausgegangenen Operation keinen hinreichenden Grund für die geklärten Beschwerden finden. Diese Gruppe ist naturgemäß besonders schwierig therapeutisch angehbar, sie ist aber klein und überschaubar.

c)    Und zuletzt die Gruppe der Bandscheibenoperierten, bei denen sich eine morphologische oder funktionelle Diagnose als Schmerzursache finden lässt. Die Therapie kann hier natürlich causal sein.

Die wesentlichen Befunde/Ursachen beim Postdiskotomie-Patienten sind folgende

       Bandscheibenreste. Rezidive. Flavumreste.

       Epidurale Narben und Fibrosierungen

       Degenerative Veränderungen, wie Spondylose, Spondylarthrose, Facettsyndrome, zentrale und laterale Spinalstenose und Baastrup-Syndrom.

       Instabilitäten können rein degenerativ oder durch eine Resektion der Facettgelenke bedingt sein.

       Weiter kommen in Frage: muskuläre Insuffizienzen und Affektionen der Iliosacralgelenke oder iliolumbalen Bänder.

       Von eminent wichtiger Bedeutung sind die psychovegetativen/somatoformen psychosozialen Probleme, die teilweise ursächlich, teilweise auch als Folge der langen Krankheitsanamnese anzusehen sind.

Wie primär für die Diskotomie, so ist auch für die weitere Abklärung des Postdiskotomie-Syndroms eine intensive differentialdiagnostische Analyse notwendig

       Röntgen: neben den Nativ-Aufnahmen werden ggf.Schrägaufnahmen, Funktionsaufnahmen und bei Bedarf eine Funktionsmyelographie hergestellt.

       Computer- und/oder Kernspintomographie (mit oder ohne Kontrastmittel)

       NMR unter Belastung/Funktion

       Gezielte Lokalinjektionen an den Triggerpunkten, Dornfortsätzen, am Trochanter, an den Iliosacralfugen und an den Facettgelenken

       Peridural-Injektionenen und Wurzelblockaden.

       Zum Nachweis einer radikulären Ausstrahlung oder eines discogenen Schmerzes kann die betroffene Bandscheibe i.S. einer Diskographie mit gleichzeitigem Provokationstest injiziert werden: durch Injektion soll der intradiskale Druck und das Bandscheibenvolumen vergrößert werden, eine radikuläre Schmerzausstrahlung wird häufig von dem Patienten als „memory pain“ angegeben. Dieser Test muß natürlich in Lokalanästhesie durchgeführt werden.

       Bei unklarer Segmentinstabilität oder Lumbosacralarthrose wird häufig eine probatorische Immobilisation der Wirbelsäule durch ein Mieder bewirkt. Diese optimale Ruhigstellung der LWS-Segmente soll bei der Entscheidung zur orthotischen Versorgung oder zur Versteifungsoperation behilflich sein.

Bei Trüffeln ist es bekannt und für die Diffenetialdiagnostik der Wirbelsäule möchte ich es hinzufügen: eine gute Nase und ein ausgefallener Spürsinn sind von ausschlaggebender Bedeutung.

Die konservative Therapie umfasst beim Postdiskotomiesyndrom und Bandscheibenvorfall nahezu dieselben Therapiemodalitäten: bei akuten Beschwerden wird ein Versuch mit Stufenbett, Wärme oder Eis, sowie medikamentös mit Antiphlogistika, Muskelrelaxantien und Analgetika unternommen.

Weitere wichtige Punkte sind isometrische Spannungsübungen, Gewichtsreduktion, die physikalische Therapie. Zusätzlich empfehlen wir unseren Patienten die intensive Lektüre der speziellen Rückenschul-Literatur.

Besonders möchte ich in diesem Zusammenhang auf das neue Behandlungskonzept der Rückenschule (back-school) aufmerksam machen. Die Rückenschule soll über die Akutphase hinaus praeventive Funktion haben. Sie soll insbesondere die Bereitschaft zur Mitarbeit des Patienten stärken und sie soll mittels verhaltenstherapeutischer Lernprozesse alte wirbelsäulenfeindliche Verhaltensmuster in „wirbelsäulenfreundliche Verhaltensmuster“ umprogrammieren.

Ultima ratio ist die Operation: soweit als möglich werden wir hier natürlich streng causal vergehen:

       intraspinale Prozesse werden entfernt: Narben, Bandscheiben- oder Flavum-Rest, knöcherne Spinalstenosen, usw.

       beim Baastrup-Syndrom wird eine Keilexcision durchgeführt.

       beim Facett-Syndrom wird die nervöse Versorgung der Kapsel elektrisch verkocht;

       bei nachgewiesener Instabilität, bei ausgeprägter Osteochondrose/Spondylarthrose wird die Wirbelsäulenversteifung durchgeführt.

Je mehr Operationen bei einem Patienten durchgeführt wurden, umso schlechter ist die Erfolgsaussicht. Dies zeigt sich auch im Vergleich zweier Klientele mit primärer, bzw. sekundärer bilateraler Spondylodese, die ich nachuntersuchen konnte: 1. ohne Voroperation. 2. mit Postdiskotomie-Syndrom. In der zweiten Gruppe zeigte sich weniger Beschwerdefreiheit und weniger Besserung.

Für die Versteifungsoperation gilt – noch mehr als für die Diskotomie – dass pathologische Persönlichkeitsstrukturen erkannt und nur mit größtem Vorbehalt einer solchen Operation zugeführt werden sollen.

Trotz aller Problematik dieser Operationsverfahren können diese Eingriffe dem Patienten häufig signifikante Linderung bringen. Die rechtzeitige Indikation zur Operation muss gestellt werden, bevor schlussendlich sekundär morphologische und psychosomatische Veränderungen sich manifestieren, die – falls überhaupt reversibel – schwerer als die eigentliche Grunderkrankung anzugehen sind. Die Entwicklung einer „Chronifizierung“ sollte unter allen Umständen vermieden werden.

Dr. med. Peter J. Kaisser