Unsere tägliche Erfahrung in Klinik und Praxis, sowie epidemiologische Studien über den Kreuzschmerz machen deutlich, dass über das bisher bestehende Therapie-Konzept hinaus neue Vorstellungen über die wirksame Behandlung von Wirbelsäulenbeschwerden und ihre sozialmedizinische Auswirkung entwickelt werden müssen. Trotz modernster Diagnose- und Therapieverfahren, auf die in dieser Arbeit näher eingegangen werden soll, sprechen die Statistiken eine eindeutige Sprache:
Die Behandlungsbedürftigkeit von Wirbelsäulenschmerzen sind innerhalb der westlichen Industriestaaten in den letzten 10-15 Jahren um 3.000% gestiegen.
50% aller Frührenten werden wegen Wirbelsäulen-Leiden gewährt.
Das Programm der orthopädischen Rückenschule – entwickelt vom Arbeitskreis für degenerative Wirbelsäulenerkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (DGOT) – dient der Prävention und Rehabilitation von Wirbelsäulenschäden. Durch verhaltensändernde Maßnahmen soll wirbelsäulenfeindliches in wirbelsäulenfreundliches Verhalten umgeschult werden.
Es ist zu unterscheiden zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiär-Prävention.
Das Rückenschulprogramm stellt einen Mosaikbaustein in der „Therapiestraße“ (RIEDER) dar.
Rückenschule heißt Umlernprozess und Verhaltensänderung; tiefreichende psychische und emotionale Bereiche werden hierbei tangiert. Die alleinige Wissensvermittlung und die Empfehlung oder „Verordnung“ einer neuen Lebensweise sind für solche Prozesse mit Sicherheit nicht ausreichend! Darin unterscheidet sich die Rückenschule in ihren „therapeutischen“ Anforderungen sehr wesentlich vom herkömmlichen medizinischen Alltag – der ja, wie wir oben gesehen haben, bezüglich der Effizienz bei der Behandlung von Wirbelsäulenleiden mehr als fragwürdig geblieben ist.
Traditionsgemäß war die Medizin immer auf das Heilen und auf das Somatische hin orientiert. Im Bereich der Prävention und der Verhaltenssteuerung – und genau dies ist das zentrale Anliegen der Rückenschule – kann sie sich aber auf keine fundierten Erfahrungen berufen!
Die notwendig gewordene Spezialisierung in der Medizin erfordert mehr denn je die Kooperation unter Fachleuten. Spezialistentum meint: Die Grenzen des eigenen Terrains kennen, um zu wissen, wo andere kompetenter sind.
Überall dort wo es um die optimale und erfolgreiche Vermittlung diffiziler Inhalte geht, bedienen wir uns heute der wissenschaftlichen Psychologie – so auch in dem interdisziplinären Modell der orthopädischen Rückenschule.
Es ist nicht ausreichend, sich auf das in dieser Richtung „ungeschulte Naturtalent“ des Rückenschullehrers zu verlassen.
In orthopädisch-psychologischer Zusammenarbeit habe ich deshalb zusammen mit Herrn Priv. Doz. Dr. S. Höfling vom Psychologischen Institut der Universität München das so genannte Münchner Manual entwickelt. Es soll Leitfaden und Hilfestellung zur Durchführung der Rückenschule sein. Es soll dem orthopädischen und krankengymnastischen Rückenschullehrer ermöglichen, psychologisches Wissen in jeder einzelnen Unterrichtsstunde praktisch umzusetzen – entsprechend der Maxime: Psychologie wird in der Rückenschule nicht gelehrt, sondern Psychologie findet ganz einfach statt!
Das Münchner Manual dient nicht zuletzt der Standardisierung und Qualitätssicherung der orthopädischen Rückenschule – um Wildwuchs und Verwässerung soweit als möglich zu vermeiden, und um eine Grundlage für wissenschaftliche Evaluationsstudien zu ermöglichen, die unabdingbare Voraussetzung für den Effektivitätsnachweis dieses neuen verhaltensmedizinischen Umschulungsprogramms darstellt.
Dr. med. Peter J. Kaisser