Die orthopädische Rückenschule – ein Beitrag zur interdisziplinären Zusammenarbeit

Wie schwierig und erfolglos Verhaltensmodifikation sein kann, erleben wir alle täglich: in der Praxis, in der Klinik, im Privatleben – Ärzte gleichermaßen wie Patienten. Ein typisches Beispiel ist die Diätberatung zur Gewichtsreduktion oder die Raucherentwöhnung.

Rückenschule ist Verhaltensmodifikation! Prävention und Rehabilitation zugleich.

Da Verhaltensmodifikation so schwierig und anspruchsvoll ist, hatten wir vor vielen Jahren das Münchner Manual zur Rückenschule erarbeitet. Wir waren davon ausgegangen (Prof. Dr. S. Höfling und Dr. P. J. Kaisser), dass Fachleute gefragt sind, um die Kommunikationstechniken und –strategien optimal einzusetzen und um eine optimale Vermittlung der Rückenschulinhalte zu gewährleisten – und damit die besten Voraussetzungen für eine dauerhafte Verhaltensveränderung zu schaffen: von wirbelsäulen-feindlichem Verhalten zu wirbelsäulen-freundlichen Verhalten.

Die wissenschaftliche Psychologie im Rahmen ihrer Kenntnisse über optimale Kommunikationshandhabung verfügt über empirisch abgesicherte Ergebnisse und erprobte Strategien, um Verhaltensveränderungen dauerhaft und nachhaltig herbeizuführen. Krankengymnasten und Orthopäden verfügen über dieses spezifische kommunikationstheoretische Fachwissen mit Sicherheit nicht! Und woher auch?

Das bedeutet, dass wir „leichtsinnig“ Chancen verspielen in der Führung unserer Patienten, die eine Verhaltensmodifikation benötigen. Nicht aus böser Absicht. Nein, – aus mangelndem psychologischen und kommunikationstheoretischen Wissen.

Psychologie in der Rückenschule ist nicht Psychotherapie, sondern vielmehr Kommunikationsstrategie! Und als Folge findet der psychotherapeutische Effekt dann ganz einfach „automatisch“ statt.

Wir hatten deshalb mit dem Münchner Manual einen interdisziplinären orthopädisch-psychologischen Brückenschlag versucht. Das Münchner Manual sollte ein Handlungsmanual sein, welches den Rückenschullehrer/in in die Lage versetzt, psychologisches Wissen in jeder einzelnen Rückenschulstunde praktisch umzusetzen und anzuwenden – ohne selbst Psychologe zu sein.

Das Münchner Manual stellt kein neues Rückenschulprogramm dar!

Es erhebt auch keinen Anspruch auf Einmaligkeit oder Vollständigkeit!

Es ist vielmehr eine Form, wie die orthopädische Rückenschule praktisch durchgeführt und umgesetzt werden kann.

Neu sind nicht die Lehrinhalte. Neu ist vielmehr die Vermittlungsstrategie bekannten medizinischen Wissens zur Prävention und Rehabilitation..

Am Rande sei erwähnt, dass das Münchner Manual zur orthopädischen Rückenschule auch anderen Zwecken dienen sollte: standardisierte Lehrinhalte, Standardisierung der Rückenschullehrerausbildung, Qualitätssicherung, wissenschaftliche Evaluation und Effektivitätsnachweis. 

Das Münchner Manual soll einen Beitrag dazu leisten, die Rückenschule vor Kommerzialisierung und unnötigen Gefahren des Qualitätsverlustes zu bewahren. Die Zukunft wird zeigen, ob uns dies gelungen ist.

Dabei stellt sich die Frage: Brauch es den Arzt als solchen überhaupt in der Rückenschule? Kann ein solcher Kurs von einem ausgebildeten Krankengymnasten/in oder Physiotherapeuten/in oder Sporttherapeut/in durchgeführt werden? Kann Rückenschule auch ohne Arzt funktionieren? 

Die Indikationsstellung zur Rückenschule ist eine ärztliche Aufgabe. Der Arzt – und insbesondere der Orthopäde gibt grünes Licht für die Teilnahme an der Rückenschule. Er ist vor, während und nach dem Kurs bei Rückfragen und insbesondere bei Rückfällen akuter Schmerzsymptome gefragt: Gefahren müssen erkannt, Kontraindikationen müssen beachtet werden.

In der Rückenschule wird medizinisches Wissen, Krankheitslehre und Pathophysiologie zur Förderung des Problembewusstseins gelehrt: 

       Warum ist so genanntes „Wirbelsäulen – freundliches“ Verhalten gesundheitserhaltend?

       Warum ist so genanntes „Wirbelsäulen – feindliches“ Verhalten Ursache für Schmerz, Krankheit und irreparable Schäden?

       In welchen Alltagssituationen entstehen Schmerzen und wie sind diese zu vermeiden?

Dieses medizinische Wissen muss kompetent vermittelt werden; und kompetent in solchen Fragen ist hauptsächlich der behandelnde Arzt, der auch über anatomisches, pathologisches und physiologisches Wissen verfügt. 

Durch die Anwesenheit des Arztes in der Rückenschule entsteht für den Patienten „subjektive Ernsthaftigkeit“. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Aufmerksamkeit der Teilnehmer und deren Bereitschaft zur Mitarbeit (Compliance) durch den ärztlichen Einführungsvortrag extrem angeregt wird und noch mehr, wenn diese Einführung im Dialog über Wirbelsäulenerkrankungen, diagnostische und therapeutische Maßnahmen geführt wird.

Der Rückenschulteilnehmer ist plötzlich fasziniert von dem Phänomen „Wirbelsäule“, von seiner Wirbelsäule. Er beginnt eigene medizinische Kompetenz zu entwickeln, also sein eigener Gesundheitsexperte zu werden und Eigenverantwortung zu übernehmen. 

Verhaltensmodifikation und Prävention sind ohne Eigenverantwortung undenkbar! 

Und nur am Rande sei erwähnt die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Evaluation. Für diese wissenschaftliche Funktion erscheint mir die ärztliche Mitarbeit erforderlich.

Der Arzt trägt letztendlich die medizinische Verantwortung für den gesamten Rückenschulkurs. In seinen Händen liegt die zentrale Funktion und medizinische Verantwortung, um idealerweise die interdisziplinäre Koordination zu gewährleisten. 

Die Rückenschule ist ein interdisziplinäres Team von Spezialisten, die in intensiver und reger Kommunikation nebeneinander stehen. Und deshalb kann Rückenschule auch niemals über das Delegationsprinzip funktionieren. Jeder im Team – auch der Arzt – muss genauestens über die Lehrinhalte und Lernziele Bescheid wissen. Psychologisches „Know how“ und die Strategie zum optimalen Lernen müssen bekannt sein.

Die Kursorganisation liegt häufig am besten in den Händen der Krankengymnasten/innen. Sie sind in jeder Unterrichts- und Trainingsstunde mit dem Teilnehmer zusammen. Und häufig findet die Rückenschule auch in ihren Räumlichkeiten statt, so dass die organisatorische Infrastruktur der jeweiligen Krankengymnastikpraxis optimal genutzt werden kann. 

Auch bei den rein präventiven Rückenschulkursen ist eine ärztlich-orthopädische Supervision ebenfalls sinnvoll; der Arzt kann hier aber etwas mehr im Hintergrund bleiben. Präventionskurse haben einen größeren Freizeit-, Spiel- und Sportcharakter.

Primär ärztliche Aufgaben sind in jedem Fall die medizinische Wissensvermittlung, die medizinische Indikationsstellung, ob eine Rückenschule begonnen werden kann oder aus akuten Gründen ggfs. abgebrochen werden muss.

Zu dem gewährleistet die ärztliche Präsenz in der Rückenschule die Kontinuität von ärztlicher Akutbehandlung über die Rehabilitation bis hin zur Prävention. Und besonders wichtig ist in diesem Rahmen auch die Gewährleistung der Konkordanz innerhalb dieser verschiedenen Programme! Das heißt: die konkordante Abstimmung zwischen Arzt, Krankengymnast, Therapeut und Gruppenleiter jeglicher Provenienz. 

Kontinuität und Konkordanz, also die gleichgerichtete und widerspruchsfreie Abstimmung der Lehrinhalte, sind wesentliche Voraussetzung zur erfolgreichen und dauerhaften Verhaltensmodifikation. Die wissenschaftliche Psychologie mit ihren weitläufigen Erfahrungen im Bereich der Lerntheorie hat dies in zahlreichen Studien belegt.

Erlaubt sei ein Vergleich aus dem Sport: Sie erinnern sich sicherlich, wie sehr unsere Fortschritte z.B. beim Tennisspiel torpediert und behindert wurden, wenn von Tennislehrer zu Tennislehrer immer wieder andere Techniken gelehrt wurden. Und ähnlich sieht es im Training der Golf- und Skikursen aus: fehlt die Konkordanz und die gegenseitige Abstimmung, kann ein zielgerichtetes Lernen nicht stattfinden.

Wünschenswert ist auch die Anwesenheit des Arztes am Ende des Kurses, um hier nochmals medizinische Fragen zu beantworten, um die Motivation zum Weitermachen – zu Hause, allein, aber auch in Refresher-Kursen zu fördern. 

Letztendlich gilt die Maxime: Rückenschule ist „Teamwork“. Entscheidend ist aber nicht wer, sondern wie bestimmte Funktionen erfüllt werden.

Die optimale personelle und fachliche Besetzung und die funktionierende Kommunikation zwischen allen Beteiligten – inklusive Patienten! – sind der beste Garant für den Erfolg der Rückenschule. 

Dr. med. Peter J. Kaisser